Munitionsfabrik Thun

Die 1586 eröffnete Pulvermühle in Steffisburg, eine der ältesten und aktivsten Munitionsfabriken der Welt, erlebte eine turbulente Geschichte unter wechselnden Besitzern und ständiger staatlicher Aufsicht des Kantons Bern. Nach der Verfassungsänderung von 1848 und dem Entstehen des Pulvermonopols des Bundesstaates, wechselte sie in den Besitz der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Die Mühle, tragisch gezeichnet durch einen Unfall mit zwei Todesopfern im Jahr 1862, wurde auf Beschluss des Bundesrates nicht wieder aufgebaut. Stattdessen entstand entlang der rechten Seite der Allmendstrasse, im Jahr 1863, im gleichen Jahr wo auch die neue Kaserne gebaut wurde, das «Eidgenössische Laboratorium», später bekannt als Eidgenössische Munitionsfabrik Thun (M+F). Das + sollte dabei das Schweizerkreuz symbolisieren.  Im Volksmund allerdings, wurde der Betrieb immer nur “Labi” genannt.

Die Munitionsfabrik stellte Geschosse für Gewehre und Artillerie sowie Handgranaten und ab 1933 auch Gasmasken her. Zahlreiche Zulieferbetriebe profitierten von den Rüstungsbetrieben wie anfänglich die Blechwarenfabrik Hoffmann oder die Selve Metallwerke.

1895 beschäftigte das Unternehmen bereits 850 Personen. Jeweils während den Weltkriegen, stieg die Zahl der Beschäftigen stark an – oder umgekehrt. 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs, hatte die Fabrik einen Bestand von 1850 Angestellten. Im Jahr darauf waren es noch 400. Das Maximum an Beschäftigten erreichte die Firma daher im Zweiten Weltkrieg mit bis zu 2450 Beschäftigten. Doch bereits ab 1944 erfolgte ein Abbau auf rund 1300 Angestellten. Bis um 1990 waren noch 1000 Personen in der Munitionsfabrik tätig. Im Jahr 1995 wurden die verschiedenen Munitionsfabriken zur SM Schweizerische Munitionsfabrik fusioniert. Drei Jahre später, 1998, erlebte die Fabrik eine weitere Transformation, als sie zusammen mit anderen öffentlich-rechtlichen Bundesbetriebe, im Rüstungsbereich in die RUAG integriert wurde.

Die Labibahn
Die ehemalige Werksbahn der Munitionsbetriebe, mit einer totalen Streckenlänge von 5.6 Km, führte vom Materiallager an der Allmendstrasse zu den verschiedenen Prouktionsanlagen an der Uttigen- und Feuerwerkerstrasse. Unter der Panzerbrücke zweigte die Bahn Richtung Uttiger Auswald ab, wo ab den 1920er-Jahren bis 1981 an die 15 Magazingebäude, sowie eine grosse Lager- und Speditionshalle mit SBB-Anschluss erstellt wurden. Die grauen Materialwagen wurden von Akkuloks – und ab 1933 von Diesellokomotiven gezogen, die maximal 30 Km/h fuhren. Als 1989 die Produktion in der neu erstellten zentralen “Munitionshalle GP 90” aufgenommen wurde, stellte die Werkbahn ihren Betrieb dann 1996 ein. Bis heute sind an zahlreichen Orten noch die alten Schienen zu sehen.

Die «Labibahn» der Munitionsfabrik 1922. Der Plan zeigt den Verlauf der Werksbahn (schwarz) und die Kanalisation (rot). Zum Vergrössern Bild anklicken.

Ab 1878 besuchten Fabrikinspektoren die Thuner Industriebetriebe. Auf der Grundlage des eidgenössischen Fabrikgesetzes von 1877 kontrollierten sie in der Regel einmal jährlich alle Betriebe, die mehr als sechs Personen beschäftigten und mit Maschinen oder gefährlichen Stoffen arbeiteten. Sie definierten dabei Massnahmen, um die Beschäftigten in Gewerbe und Industrie vor Gefahren und Berufskrankheiten zu schützen. Bis zum Zweiten Weltkrieg hielten die Inspektoren ihre Beobachtungen stichwortartig in handschriftlichen Protokollen fest. Um 1900 waren in Thun rund 20 Firmen dem Fabrikgesetz unterstellt, darunter auch die drei Bundesbetriebe Konstruktionswerkstätte, Munitionsfabrik und Zeughaus. 1950 standen 56 Fabrikbetriebe, 2000 noch 36 unter der Kontrolle des Bundes.

Die Inspektoren beanstandeten Maschinen mit ungenügenden Schutzvorrichtungen und Räume mit stickiger Luft oder fehlender Belüftung. So hielt der Inspektor 1899 in der Munitionsfabrik fest: «In der Messinggiesserei muss ein Abzug über den Ziegeln angebracht werden. Es wird eben Antimon geschmolzen und das ganze Lokal ist voll Dampf.» Oder 1931: «In Schellackierung ist Ventilation verbessert worden. Der ständig dort beschäftigte Arbeiter sagt aus, dass er sich gewöhnt sei, dass aber nur gelegentlich im Raum anwesende Leute öfters denselben verlassen müssen wegen Übelkeit (hauptsächlich Frauen). Offenbar Spritrausch.»

Die Inspektoren hielten auch die Zahl der beschäftigten Arbeiter fest und kontrollierten, dass keine Kinder beschäftigt wurden und dass Jugendliche keine gefährlichen Arbeiten ausführen mussten. In der Konstruktionswerkstätte und im Zeughaus waren bis Mitte der 1930er-Jahre ausschliesslich Männer beschäftigt. In der Munitionsfabrik waren bereits ab den 1890er-Jahren Frauen im Einsatz. Wenn die Produktion wie zum Beispiel während des Ersten Weltkriegs auf Hochtouren lief, stieg ihre Zahl an und betrug bis zu einem Viertel der Belegschaft.

Die Munitionsfabrik stellte aus Kupferblech Hülsen her, die mit Zündstiften, Pulver und Bleikugeln gefüllt wurden. An den Patronenhülsenmaschinen bestand Verletzungsgefahr. In anderen Abteilungen stand der Schutz vor Quecksilberdämpfen oder Blei im Zentrum. Die Zähne der Arbeiter wurden von den Inspektoren besonders genau angeschaut. Verfärbten sich die Zahnränder schwarz, deutete dies auf eine Bleivergiftung hin. Einer der vielen geschädigten Arbeiter, war Eduard Aegerter, welcher später an der Hofstettenstrasse ein Antiquitätenladen führte. Bis in die 1930er-Jahre trieb eine Transmissionsanlage die Maschinen an. Die Arbeitsplätze mussten in einer gewissen Distanz zu dieser mechanischen Kraftübertragung platziert sein. 1933–1935 kontrollierte der Inspektor deshalb, ob an den Maschinen Frauen arbeiteten, deren «Hängezöpfe» in die drehende Transmission gewickelt werden konnten. Bei Arbeiten oder der Lagerung mit gefährlichen Stoffen gab es immer wieder Unfälle, zum Teil auch mit Todesfolgen. Wie die Katastrophe im Lerchenfeld vom 22. Mai 1922, wo zwei Knaben ihr Leben verloren oder der Brand im August 1943, wo in einem Laborgebäude fünf Arbeiter starben.

Die Arbeitswoche dauerte bei der Konstruktionswerkstätte und der Munitionsfabrik 1878/79 von Montag bis Samstag, pro Tag wurden jeweils zehn Stunden gearbeitet. Eine deutliche Reduktion gab es erst 1918, als der Bund der im Landesstreik erhobenen Forderung nach einer 48-Stunden-Woche zustimmte. Ab den 1920er-Jahren war der Samstagnachmittag arbeitsfrei. 1878 gab es ein Esslokal, wo sich die Hälfte der Arbeiter am Mittag verpflegte. Eineinhalb Liter Suppe mit Spatz kosteten 25 Rappen, ein Liter Kaffee mit Milch 15 Rappen. Dies bei einem Tageslohn von 1 Franken für Anfänger, 1.50 für Arbeiter sowie bis 5.50 Franken für die Meister. 1907–1909 errichteten die Bundesbetriebe an der Uttigenstrasse die Aarestube, eine Speiseanstalt (Spisi), in der sich in vier Speisesälen bis zu 800 Mitarbeiter verpflegten.

1894 richtete die Munitionsfabrik 25 «Brausebäder» ein, wo die Angestellten einmal pro Woche duschen konnten. Dies kostete inklusive Seife und Badetuchbenutzung zehn Rappen. Die meisten Wohnungen der Arbeiterfamilien hatten bis ins 20. Jahrhundert hinein kein Badezimmer, weshalb Badeanlagen und Duschen am Arbeitsort für die Körperhygiene wichtig waren.

Die Munitionsfabrik und die Konstruktionswerkstätte verfügten bereits seit 1865 über eine Betriebskrankenkasse, was vergleichsweise fortschrittlich war; die Selve richtete erst 1918 eine Kasse ein.

Bis heute liegen in den Tiefen des Thunersees noch 4600 Tonnen Munition und Munitionsrückstände. Das Material stammt aus Beständen des Zweiten Weltkrieges, von Explosionsunglücken oder aus Munitionsfabriken und ist dort von der Schweizer Armee bis in die 1960er-Jahre versenkt worden.

Die Rüstungsbetriebe waren über Jahrzehnte die grösste Arbeitgeberin in der Region Thun. Für die meisten Thunerinnen und Thuner aber, die dort nicht arbeiteten, war das Gelände nie zugänglich und nur durch einen hohen Stacheldrahtzaun erkennbar. Die «Verbotene Stadt», welche flächenmässig mehr als doppelt so gross wie die Thuner Innenstadt war, bestand aus über 170 diversesten Gebäuden wie Fabrikhallen, Magazine oder Schuppen. Die unzähligen Gebäude wurden mit eigenen Hausnummern versehen und in einem Gebäudeverzeichnis eingetragen. Da viele der militärischen Bauten heute auch zivil genutzt werden, gibt es eine Koexistens der Hausnummern.

Erst im Jahr 2004 wurde das Gebiet teiweise und zögerlich für die zivile Nutzung geöffnet. Als erstes Haus wurde die Uttigenstrasse 27, ein ehemaliges Kontroll-Labor als Galeriehaus geöffnet. Nach und nach wurden in den folgenden Jahren diverse Hallen und Gebäude für das Gewerbe freigegeben. Am Samstag, 18. Dezember 2021 wurde auch der Durchgang ins Lerchenfeld an der Uttigenstrasse nach 40 Jahren wieder für den Fuss- und Veloverkehr geöffnet.

Quellen: Thuner Stadtgeschichte, Christian Lüthi, Jahresbericht Schloss Thun 2022 Guntram Knauer, TT 04.12.2012, Wikipedia, Fotos: Sammlung Kurt Müller, eingestellte-bahnen.ch, Diverse

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.